Juni 2003  /  Boris Mikhailov: Retrospective (Scalo)

Private Freuden, lastende Langeweile, öffentlicher Zerfall

English Version: Private Pleasures, Burdensome Boredom, Public Decay →

Surrealistische Überblendungen, volkskunstähnliche Handkolorierungen, Amateurschnappschüsse, Banalfotografie mit tagebuchartigen Notizen, Selbstinszenierungen, nackt vor schwarzem Hintergrund, und direkte, harte, grelle Farbfotografie: Boris Michailow legt ein dichtes und sehr vielfältiges Werk vor, das sein Publikum im Osten wie im Westen begeistert, zuweilen aber auch irritiert oder verstört. Es umfaßt rund 25 Werkgruppen – neben kleineren Arbeiten und Einzelbildern – und deckt bisher einen Zeitraum von über dreißig Jahren ab, angefangen beim „entwickelten“ Sozialismus in den siebziger Jahren bis zum Kollaps der Sowjetunion um 1990/91, durch die Jahre des „Wilden Ostens“ bis zu seiner Übersiedelung von Charkow in der Ukraine in den Westen, Ende der neunziger Jahre. 

Sein Werk ist bis Anfang der neunziger Jahre kaum öffentlich gezeigt worden. Als nicht-offizieller Fotograf wurde Boris Michailow vom System vorgeschriebener Themen und Darstellungsweisen geächtet, stärker noch als die nicht-offiziellen Künstler. Obwohl es kein formelles Verbot gab – außer der Vorschrift, Geschehnisse nicht von oben herab zu fotografieren bzw. nicht so, daß die Fotografie ein abwertendes Schlaglicht auf die Errungenschaften des sowjetischen Lebens werfen konnte –, wurde Boris Michailow oft vorwurfsvoll mit dem sowjetischen „Common Sense“ konfrontiert: Die einfachen Menschen auf der Straße fragten ihn, wieso er denn hier fotografiere, das dürfe er doch nicht. Begleitet wurde dies von der Forderung, den Film zu „belichten“, das heißt, ihn vor den Augen der herbeigeeilten Miliz aus der Kamera zu nehmen. Entsprechend wurden seine Fotografien lange Zeit auch nicht ausgestellt, erhielten keine Plattform, außer in seiner eigenen Wohnung oder der von Freunden. Diese Kleinstausstellungen auf Zeit sind in Künstler- und Fotografenkreisen jedoch intensiv diskutiert worden. Der Austausch funktionierte – auch in der Ächtung: Boris Michailow aus Charkow in der Ukraine war bestens vertraut mit den Diskussionen der Moskauer Konzeptualisten um Ilya Kabakow und Eric Bulatow. Wie umgekehrt jene auch sein Werk kannten und kommentierten.

1990, mit der Öffnung des Ostens, beginnt Boris Michailows internationale Ausstellungstätigkeit, u. a. mit einer Einzelausstellung im Museum of Contemporary Art in Tel Aviv. Seit Mitte der neunziger Jahren wird er mit zahlreichen wichtigen Auszeichnungen geehrt, darunter der Coutts Contemporary Art Foundation Award, der Hasselblad Award und der City Private Bank Photography Prize. Seit den Ausstellungen im Forum Stadtpark in Graz (1992), an der Rotterdamer Biennale (1994), im Frankfurter Portikus und in der Kunsthalle Zürich (1995 bzw. 1996) und mit dem Erscheinen seiner Publikationen wird sein Werk im Westen weithin wahrgenommen und diskutiert und findet „seinen Markt“. Die Rezeption im Osten – Ausnahme ist die Retrospektive am Soros Center of Contemporary Art in Kiew (1996) – kam hingegen erst langsam in Gang. Im Frühjahr 2003 nun schließt sich endlich der Kreis: Boris Michailow wird in Moskau der erstmals vergebene General Satellite Corporation Art Prize „für seinen Beitrag zur Entwicklung der zeitgenössischen russischen Kunst“ zugesprochen. Damit wird ein „verlorener Sohn“ (ein Nestbeschmutzer, wie es hierzulande heißen würde) heimgeholt und erfährt im russischen Kontext auch offiziell die Anerkennung, die er im Westen schon seit zehn Jahren genießt. 

Doch wird sein Werk im Osten und Westen auch gleich verstanden und für die selben Dinge geliebt oder geschmäht? Diese Frage begleitet das vorliegende, retrospektiv angelegte Buch und stellt sich bei jeder Arbeit und jedem Textbeitrag neu. Einen deutlichen Hinweis auf die Differenz der Wahrnehmung gibt Boris Michailow im Interview mit Victor Tupitsyn gleich selbst, wo es um die Schwierigkeit geht, sich im Westen zurechtzufinden: Als Ost-Künstler, der im sowjetischen Kollektiv, im sowjetischen Kommunikationsystem aufgewachsen ist, habe er fünf Jahre gebraucht, bis er überhaupt wieder eine Arbeit vorlegen konnte. In Rußland hingegen, sagt Michailow, „verstehe [ich] ... die Dinge. Alles, den Schmerz. Es gibt dort mehr offene Gefühle, offene Beziehungen, komplizierte Beziehungen. Aber hier verstehe ich wohl nicht alles. Nicht so sehr, weil ich die Sprache nicht kenne, sondern die Situationen bleiben unklar für mich.“1 Die Schwierigkeiten des Autors sind die unseren in der Rezeption, in der Wahrnehmung seines Werkes. Wir im Westen sind außerstande, sein Werk so fein aufzufächern, wie es Boris Michailow im Gespräch jeweils tut. Es flirrt dann nur so von Bezügen, im kleinen und großen Zusammenhang. Doch selbst wenn wir jeden Querbezug, jeden Hintergedanken verstehen würden, eine Differenz bliebe: Wir teilen nicht den gleichen Schmerz, die Bedrohung, die Leere und Langeweile. Offenbar aber bietet sein Werk außerhalb der genauen Situierung im sowjetischen Kontext auch einen universaleren Zugang an.

Methodisch und thematisch kann es, gemäß der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen während der Zeit des Sozialismus (vom „entwickelten“ zum lähmenden Sozialismus unter Breschnew) bis hin zum Zerfall der Sozialordnung, in vier Hauptabschnitte unterteilt werden: 

Erstens – die Zeit des Bruchs, der Unterstreichung/Betonung und der Montage als Mittel der Bildgestaltung (in den siebziger Jahren). Boris Michailow setzt sich mit der hegemonialen Bildsprache des Sowjetischen auseinander, u. a. mit ihrem Schönheitsbegriff, der Verbindung von „gut gemacht“ (Errungenschaften), „rot gestrichen“ (Bildsprache) und „als schön und richtig erfahren“. Sein „Aufbrechen“ des hegemonialen Zeichen-Bollwerks ermöglicht den Zweifel, den Zwiespalt, eröffnet ein Feld für Fragen. 

Zweitens – die Zeit des banalen, einfachen, unspektakulären Bildes (in den achtziger Jahren). Es ist die Zeit der doppelten Eigentlichkeit: Sie zeigt uns Boris Michailow auf der Suche nach einer eigenen direkten Bildsprache, die sich nicht mehr über die Auseinandersetzung mit der offiziellen Bildsprache definiert. Und sie zeigt das Land, das Leben der Sowjetunion ohne den Pomp, die Auszeichnungen, also ohne die sowjetische Sprache. Die Bilder sprechen von einer Sowjetunion ohne Moskau, von sowjetischen Städten ohne Hauptstraße und Zentralplatz, zeigen den banalen Alltag, nähern sich der subkutanen Sowjetunion. Hier entwickelt sich Boris Michailow zum Phänomenologen der Zeit, der Langsamkeit, des Nichtereignisses, der heiteren und oft lastenden Langeweile. 

Drittens – die Zeit nach dem Kollaps der Sowjetunion und dieses dreifache Requiem auf den Zerfall der Sozialordnung, zuerst in der Arbeit Am Boden, dann in Die Dämmerung und schließlich in Case History (in den neunziger Jahren). Alle drei Arbeiten zusammen sind – trotz unterschiedlicher Bildmittel wie Panoramafotografie gegenüber vertikaler Porträtfotografie oder braune und blaue Einfärbungen gegenüber scharfer Farbfotografie – ein großes, mal stummes, bedrücktes, mal lautes, schrilles Klagen über das Auseinanderfallen, das Zusammenbrechen: zuerst der Ordnung (Am Boden), dann der Hoffnung (Die Dämmerung) und schließlich der banalen, einfachen Existenz (Case History). 

Und viertens – die Zeit der Neuorientierung, der Weg aus dem sowjetischen Kollektiv, der ihn schließlich mehrheitlich in den Westen führt (Ende der neunziger Jahre). Diese Phase überlappt sich mit dem Zerfall der Ordnung, weil der Zusammenbruch der Sowjetunion Künstler wie Boris Michailow unverhofft ausspuckt: Wände, Dach, Sprachregelungen, das gesamte kollektive Gebäude, alles ist plötzlich weg, und alle sind plötzlich zu Individuen verwandelt, die nun, in einem großen existenziellen Geworfensein, den Sinn der Arbeit gänzlich aus sich selbst heraus suchen müssen. Doch was ist dieses „Selbst“? Boris Michailow thematisiert diese brüske Neuorientierung in einer theatralischen Selbstinszenierung als alternder, lächerlicher Mann, als gefallener Sowjetmensch, als zweifelnder Denker, als Künstler mit Klistier. I am not I ist die Darstellung einer Identitätskrise als Groteske voller Fragen und Zweifel, voller Hoffnungslosigkeit und Gelächter. Gleichsam als Gegenarbeit dazu schafft Boris Michailow einige Jahre später TV-Mania, die erste im Westen erstellte Arbeit, in der er den Versuch des Künstlers thematisiert, sich neu zu orientieren, die Welt über die flirrenden Fernseh-Zeichen zu verstehen, jene Welt, wie sie sich in der mediatisierten Bildwelt fragmentiert, zerstückelt, aber nonstop, 24 Stunden lang, über den Globus verbreitet.

Vier Zeiträume, die zugleich Werkräume sind, in deren Ästhetik sich individuelle und kollektive Befindlichkeiten manifestierten. Einige der frühen Werkeigenschaften seien nun bevorzugt herausgegriffen, die späteren werden ausführlich von den TextautorInnen behandelt. Als sei es in seinem biographischen Erlebnis angelegt – er verlor seine Arbeit als Elektroingenieur, weil im firmeneigenen Fotolabor Abzüge von halbnackten Frauen gefunden wurden –, als sei es in seiner Herkunfts-Dualität als Jude und Ukrainer begründet, wie Michailow selbst es im Gespräch anklingen läßt: die Bruchstelle, die Überlagerung, die Verfremdung ist morphologisches Merkmal eines Großteils seiner Werke und ist Methode und Gehalt zugleich. Die goldfarbene Büste Lenins am Anfang des Buches (aus der unveröffentlichen Sammlung Susi und andere) ist steil „von oben herab“ fotografiert, so daß sich Lenins Gesichtszüge perspektivisch verzerren und leicht unkenntlich werden. Diese Fotografie stellt nicht die verlangte Ehrerbietung dar, vielmehr ist sie ein „Schlag“ auf den Kopf eines Monuments. Das überdimensionierte Haupt schwebt über der Schneelandschaft, als hätten Theorie und Praxis, geistiger Überbau und materielle Basis den Kontakt verloren. Auf der gegenüberliegenden Seite im Buch ist eine nackte Frau in frivol-vergnüglicher Pose und streckt „surrealistisch-konvulsivisch“ Lenin ihren Hintern entgegen. Eine zweimalige Verkehrung – zwei schräge, leicht derbe Blicke auf zwei Szenen – und die Festigkeit des Sozialkörpers „Sowjetunion“ gerät in Verdacht.

„Ich sah durch den Arsch der Frau auf die Welt“, kommentiert Boris Michailow die Arbeiten Überblendungen, die sandwichartigen Überlagerungen von zwei unzusammenhängenden Bildern. Diese frühen Montagen, mit denen Michailow in der Sowjetunion bekannt geworden ist, konstruieren nicht, wie die Montagen der russischen Konstruktivisten – Rodtschenko zum Beispiel –, eine Synthese, sondern sie dekonstruieren, lösen Festgefügtes auf, fügen ihm Risse zu, graben Löcher, reißen Tapeten runter, beschmutzen das „Schöne“, erzeugen so unverhofften, verstörerisch-offenen Sinn. Diese Montagen sind den Methoden des Surrealismus weit näher als dem Konstruktivismus. Boris Michailow wirbelt die Sexualität auf, um mit dieser Energie die Erstarrung der Bildwelt, die gesetzten Bedeutungen aufzuweichen. Die Frau, das Nackte, das Private, Persönliche, auch das Freitzeitlich-Unbekümmerte (in den Bildern vom Strand, von Sommerferien) – diese „oppositionellen“ Elemente rotten sich bei ihm zu einer Bildverschwörung zusammen, formieren das Gegenbild zur verordneten Ästhetik als Ausdruck verordneter Politik und Geisteshaltung. Sie werten Bestehendes um, lösen durch Widerspruch auf. Der Riß im Bild, die Bruchstelle öffnet die Sicht auf eine andere Ebene.

Die Serien Rot, Luriki und Sots Art operieren gegenläufig zu den Überblendungen: Sie konfrontieren nicht unterschiedliche Bilder miteinander – vielmehr unterstreichen sie, verdoppeln sie, betonen sie und erzeugen dadurch ihre Art der Verschiebung und Verfremdung. Luriki besteht aus gefundenen Fotografien, die Boris Michailow handkoloriert und durch die Auswahl und den Eingriff akzentuiert, verfremdet und ironisiert; er greift darin den Hang der Russen auf, sich eine liebgewordene Fotografie kolorieren zu lassen. Die Serie Sots Art, eigene Fotografien mit dem Charme von lokaler Pressefotografie, wirkt durch den Einsatz von grellen Farben wie eine Art von Ost-Pop-Art. In der Serie Rot hingegen folgt der dokumentierende Blick aufmerksam, seismographisch jedem kleinsten Flecken Rot in der russisch-ukrainischen Landschaft – vom Wappen über alle Symbole des Sowjetischen hinein in den Alltag der Menschen, vom Offiziellen ins Private, vom aufdringlich Vorgezeigten zum Versteckten – und visualisiert so, wie getränkt, wie durchfärbt der gesamte Sozialkörper ist. Die Farbe Rot wird in dieser komplexen Serie als eine Form von visuellem „Inbegriff“ in der Funktion einer säkularen Allumfassendheit des sowjetischen Lebens thematisiert. Das Rot begleitet die Menschen von der Geburt bis in den Sarg.

Mit der Arbeit Strand von Berdiansk. Sonntag von 11 Uhr bis 13 Uhr (1981) ändert sich die Bildstrategie von Boris Michailow markant, wird dokumentarisch, reportagehaft, findet zu einer Form, die einem visuellen Tagebuch nahekommt. Was sich in Tanz (1978) ein erstes Mal abzeichnet, wird zunächst hier und dann in Krimeischer Snobismus, Horizontale Bilder, vertikale Kalender, Flußpastorale, Stadt ohne Hauptstraße und Unvollendete Dissertation zum zentralen Merkmal: Die Farbe verschwindet, ebenfalls der Eingriff in die Bilder, ihre Bearbeitung, ihre Überlagerung, ihre metaphorische Anlage. Die Bilder werden schwarzweiß und einfach, ruhig, direkt. Zeigen, was da ist, nicht mehr. Sie sind banale Beobachtungen: ein Stück Straße, eine Wiese, ein Hinterhof, eine Fassade, Menschen gehen über den Platz, Kinder springen, spielen, ein paar Bäume sind zu sehen, einige Sonnenstrahlen. Die Bilder dokumentieren den Alltag, das Nicht-Besondere, das Nicht-Ereignis, zeigen Boris Michailows Wege ans Meer, aufs Land, in die Stadt. Diese Bilder durchdringen die messianische Zeichenwelt – oder sie meiden sie, umgehen sie. Sie berühren andere Schichten, fahren einer anderen Zeitachse als dem Sowjetischen entlang. Das idyllische Dorf auf dem Lande (Flußpastorale), die ruhige, fast menschenleere Stadt (Stadt ohne Hauptstraße) – alles ist grau, leer, ein wenig schäbig und schmutzig, aber die Bilder strahlen auch Ruhe, Gelassenheit aus. Eine heitere Langeweile auf dem Lande, eine lastendere in der Stadt. Das Sowjetische ist abgeschminkt, es bleibt das Gefühl einer die Wirren überdauernden Zeit, ein „gleichmäßiger Zustand“.

Bei diesen Werkgruppen sind immer zwei Bilder auf ein Fotopapier geprintet. Ursprünglich aus Spargründen so gewählt, wird es für Michailow zum Prinzip. Und zweimal zwei Fotografien ergeben einen Viererblock pro Doppelseite in seinen selbstgeklebten Originalbüchern. Vier Bilder, die oft zueinander nur leicht verschoben eine Szenerie wiedergeben, eine Situation, eine Landschaft, ein Wäldchen, einen Spielplatz, und durch die Verschiebungen die Zeit betonen, das Jetzt und ein wenig später, nochmals ein wenig später, mit neuen Protagonisten oder leicht anderen Blickwinkeln. Die vier Bilder sind wie winzig kleine Filmszenen anzuschauen, mit einem Hauch von Erzählung, von Abfolge darin. In der Serie von vier hat Boris Michailow die Anordnungen noch auffallend reduziert, konzeptualisiert, und so die vier Bilder zu einer strengen Sequenz, einem neuen Einzelbild zusammengeschnürt. In Flußpastorale und Stadt ohne Hauptstraße wirken die Anordnungen entspannt, beiläufig, wie eine gelassene Erzählung – die heitere Gelassenheit eines politischen und eines privaten Lebensabschnittes.

Begonnen hat Michailow diese Schaffensphase mit Horizontale Bilder, vertikale Kalender, einer umfangreichen Gruppe von Bildern, die er mit handschriftlichen Notizen – lapidaren Kommentaren zum Geschehen, Bemerkungen zur eigenen Fotografie, witzigen Anmerkungen oder Gedanken – versehen hat, wie: „Zum ersten Mal wurde es warm, die Luft war voller Rausch. Man fühlte wie durch ein Sieb. Alles gehört dir und alles ist ephemer.“ Boris Michailow und sein Werk haben eine nächste Etappe erreicht, suchen nicht mehr die „Opposition“, sondern Grundlegendes, Eigentliches, einfache Beziehungen zwischen den Dingen, den Menschen, sich und der Welt. Er wird hier zum aufmerksamen Phänomenologen der Dinge, der Verhältnisse, der Zeit. Er schaut, läßt geschehen, zeigt, gibt zu denken – antidramatisch und beiläufig fast. Dabei stützen Fotografien und Notizen einander.

Die Kombination von Bild und Text, von fotografischer Beobachtung und textlicher Notiz greift Boris Michailow in der Arbeit Unvollendete Dissertation – oder Selbstgespräche wieder auf. Jeweils zwei Fotografien sind auf die Rückseite einer gefundenen, nicht abgeschlossenen Dissertation geklebt und von nachdenklichen, räsonierenden Texten begleitet und eingerahmt. All die Paare von Fotografien sprechen von einer feinen Differenz von Ort und Zeit und Ablauf, von kleinen, manchmal unmerklichen Verschiebungen, reden vom Dazwischen. Die Texte begleiten dies auf unterschiedlichen Ebenen, sie lesen sich tatsächlich wie ein fragmentarisches künstlerisches Selbstgespräch.

In dieser Werkphase verschwindet das Derbe, das bewußt gesetzte Unschöne aus der Bildwelt. Es ist privat eine stabile Zeit, wie Michailow beschreibt, und es ist kollektiv eine stabile, wenn auch langweilige Zeit. Die letzten Jahre von „Breschnews Agonie“: Die Politik wartete, die Bevölkerung wartete. Nichts geschah, eine mitteltönige, gleichmütige Langweile, die wie eine Nebeldecke lastete. „Äußere Ruhe“. Eine große Leere. Doch es war keine extreme, keine panische Zeit, nicht die Zeit des Aufschreis wie früher beim Aufdecken von Stalins Greueldaten, beim Einmarsch in der Tschechoslowakei. Entsprechend steckt Michailow die derben, deftigen Bildmittel zurück – bis nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, bis zu Case History, zur Schreckensdokumentation von zerfallender Existenz. In Case History setzt Michailow das Bildmittel der scharfen, direkten, genauen, offenen Dokumentation fast unerbittlich ein, als möchte er nicht nur das Elend des in den neunziger Jahren zerfallenden Sowjetkörpers und das Sterben der einzelnen Menschen fassen, sondern auch die Millionen von Hungertoten in der Ukraine der dreißiger Jahre, weil es davon kein fotografisches Dokument gibt und die Erinnerung daran allmählich verblaßt. Er zeigt Wundmale am sozialen und privaten Körper, Wundmale im Kopf. Nicht als Zeichen von Erlösung, sondern von schleichendem, schorfigem, brandigem Untergang.

Das Mittel der Erotik und des sexuellen Körpers hingegen, das Sehen mit und durch den Körper der Frau, durchzieht heiter und obsessiv das Gesamtwerk von Boris Michailow. Die Frau ist Widerstandskraft gegen das Festgefügte, Vor-Herrschende, sie ist das „Loch in der Mauer“, das Aufbrechende – sie ist letztlich die Lebensenergie, die Gegenkraft zum latenten russischen Pessimismus in seinem Werk. Eine Parallelfunktion haben seine persönlichen Auftritte und die Auftritte seiner Frauen im Werk, selbst da, wo der Grundton streng dokumentarisch ist. Lachend, scherzend tritt er als eine Art Harlekin auf – mal Dandy, mal Narr, mal fauler Macho – und entzieht so, für den Augenblick des Auftritts, der Last die Schwere, der Langeweile das Stumpfe, heitert auf und treibt Späßchen mit sich und uns. Seine Auftritte verwandeln seine Fotografie in ein großes Welttheater, entlasten das Dokumentarbild von seinem Zwang zur Direktreferenz, weil ihn die dargestellten Dinge an sich, ihre Erscheinung, ihre Ähnlichkeit nicht alleine interessieren, sondern nur in ihrer Funktion im „Sein der Welt“.

Das vielschichtige, reiche Werk weist den Künstler Boris Michailow als surrealistischen Erotiker, als klagenden Sänger, als lachenden Narr und als Phänomenologen der Zeit aus, der aus seinem geschichtlichen Kontext heraus ein sich entwickelndes Werk geschaffen hat, das sich aber über alle Grenzen hinweg als ein berührendes Bild der verletzten menschlichen Seele präsentiert – voller Humor und Ernst, Stille und Groteske zugleich.

1 Aus einem Gespräch mit Marina Achenbach, in: Boris Michailow: Äußere Ruhe. Drucksache N. F. 4 der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft, Düsseldorf 2000

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