2007

Reisende Gesichter, kreisende Geschichte

English Version: Travelling Faces, Circulating History →
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»Indem man weniger sieht, stellt man sich mehr vor.«[1]

Jean-Jacques Rousseau

 

Fotografie funktioniert als Stärkung des Augensinns, sie begünstigt eine positivistische Haltung zur Welt, sie fördert den Siegeszug des Sichtbaren: Fotografie ist die visuelle Bekräftigung der Hinwendung zum Diesseitigen und Oberflächlichen. Die Welt wird optisch abgetastet, fotografisch untersucht, im Glauben, in der Überzeugung, mittels der Zeichen an der Oberfläche etwas über das Dahinterliegende aussagen zu können. »Fotografische Indizienforschung« könnte man dieses Verfahren nennen, in Anlehnung an die Indizienforschung, die im 19. Jahrhundert parallel zur Fotografie entwickelt wurde: das Sammeln, Addieren und Kombinieren von äußeren Merkmalen, um in der Summe der Einzelteile der Wahrheit – des Gemäldes in der Kunstgeschichte, des Verbrechers in der Kriminologie, der Psyche bei Sigmund Freud, der Welt in der Fotografie – auf die Spur zu kommen. Régis Debray brachte es in seinem Buch Jenseits der Bilder auf die Formel: »Wir sind die erste Zivilisation, die sich durch ihre Apparate dazu autorisiert glauben darf, ihren Augen zu vertrauen. Die erste, die die Gleichung zwischen Sichtbarkeit, Realität und Wahrheit aufgestellt hat. Alle anderen – und selbst unsere eigene noch bis vor kurzem – waren der Meinung, dass das Bild sie am Sehen hindere.«[2]

Kaum war ihr Prinzip entdeckt, ihr Verfahren erfunden, wurde hier etwas fotografiert, um es dort zu zeigen. Die ersten Fotografien (im 19. Jahrhundert) zeigen die Welt weitgehend ruhig, ganz und aus gebührender Distanz. Der Einsatz von kleineren Kameras, von Rollfilm, von Blitzgeräten stört diese Ruhe, greift ein erstes Mal die Intaktheit der Figur an. Die Fotografie »entdeckt« jetzt das Versunkene, Verborgene, entdeckt den Schnappschuss, der Unverhofftes zeigt: den Bettler am Straßenrand, das Liebespaar beim Kuss, den Milchtropfen beim Aufprall. Neue Filmmaterialien, große Teleobjektive, elektronische Nachtsichtgeräte stören bald sowohl die Intimität von Filmstars als auch die Unberührtheit des Weltalls. Mit den elektronischen Möglichkeiten wird nun der Zeigegestus total. Es offenbart sich hier erstmals in großer Schärfe, dass das Erforschen und Entdecken – von Dingen, von Verhältnissen anhand ihrer Oberflächen –, das dem fotografischen Tun edel um den Hals gelegt wird, nur eine Seite der Medaille ist, die andere hingegen ist das Zeigen und Vorzeigen, das Präsentieren und Enthüllen. Das war immer so, nur haben wir die gebührende, »anständige« Distanz zur Welt, zum Gegenüber schrittweise bis hin zur schamlosen, ätzenden Nähe verschoben. Der porno(foto)grafische Blick überschreitet alle Grenzen, hautnah stückelt er auf, preist an, hektisch und schnell.

Der Weg fotografischer Sichtbarkeit führt also aus der Distanz zur Nähe, von der Übersicht zum Detail, vom Entdecken zum Zeigen. Das fotografische Bild wird dabei zunehmend konkreter: schärfer, detailreicher, präziser. Sein Realismus wirkt so stark, dass er als räumliche und zeitliche Tatsache, als Wahrheit erscheint. Dabei wird übersehen, dass das Dagewesene sehr wohl eine Spur in der (analogen) Fotografie hinterlässt, dass es einen optisch-chemischen Niederschlag verursacht, den wir in der Fotografie betrachten. Doch diese Existenz- oder Zeitspur erzählt nur eine Wahrheit, nämlich die, dass etwas geschehen und visuell wahrgenommen worden ist, aber sie erzählt nicht, wie, wo, warum, in welchem Kontext etwas geschehen ist. Und es wird auch meist übersehen, dass dieses fotografische Nähertreten, Konkreterwerden, diese Konzentration auf das Sichtbare paradoxerweise mit einem Rückzug verbunden ist: Wir beginnen, ein Stück weit aus der Welt zurückzutreten. Wir orientieren uns weniger an der greifbaren, riechbaren, hörbaren, erlebbaren, vorstellbaren Welt als an den optischen Signalen und visuellen Informationen. Wir verabsolutieren das Sichtbare auf Kosten anderer Wahrnehmungen und Erfahrungen.

Kyungwoo Chun arbeitet mit visuellen Mitteln, mit Fotografie und Video, doch er scheint in seiner Arbeit in der Gegenrichtung zum Beschriebenen unterwegs zu sein, in vielerlei Hinsicht auf einem Weg zurück, so als wolle er einen Kreis schließen. Rund vierhundert Jahre nachdem der General Chun Man Ri im Alter von 49 Jahren aus China nach Korea kam, um im Auftrag der Joseon-Dynastie dort zu kämpfen, und nachdem er nach Erfüllung überraschenderweise in Korea blieb, kehrt sein Nachfahre Kyungwoo Chun sechzehn Generationen später zum Ursprung zurück, in die Heimatgegend des Generals und in seinen eigenen zeitlich und räumlich weit entfernten Herkunftsort. In drei Dörfern in der Provinz Henan, in denen die Chuns leben, stellt er in Analogie zum Namen der Chuns (»Tausend«) eine kleine »Armee« von eintausend Einwohnern zusammen, die mit ihm zusammen einerseits ein Sinnbild für die Tausende, für die Genealogie der Chuns, und andererseits ein Sinnbild für den General darstellen, dem der Name »zehntausend, tausend Bündnisse« von seiner Mutter gegeben worden war. Kyungwoo Chun geht dabei kooperativer, demokratischer vor, als es vermutlich in der Geschichte der Fall gewesen ist. Es findet zwar eine visuelle Uniformierung statt, indem alle eintausend Porträts in der gleichen Art und Weise fotografiert werden, aber die Teilnahme an diesem Akt ist freiwillig. Und der Akt ist visuell-symbolisch angelegt und nicht existenziell. Er ist Teil einer Geschichte, die sich mit Geschichte beschäftigt.

Kyungwoo Chun rollt die Fotogeschichte umgekehrt auf und aus, indem er die Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts, als die Lichtempfindlichkeit der Fotomaterialien noch höchst beschränkt war, wieder aktualisiert. Er schließt den Kreis zum Beginn der Fotografie, als die zu Porträtierenden sich herrichteten und gebührend kleideten. Im Studio wurden Hintergründe und Mobiliar ausgewählt, Position und Haltung geprobt und schließlich das Licht gerichtet. Meist handelte es sich um Tageslichtstudios, denn es war noch nicht möglich, ausreichend starkes künstliches Licht zu erzeugen. Zuletzt wurden Hilfsgegenstände herangeschafft, Stützen für den Fuß, für den Nacken, für die Hand, je nach Position der Figur. Diese Werkzeuge waren notwendig, weil die Lichtempfindlichkeit des verwendeten Fotomaterials noch gering war, die Aufnahmen anfänglich dreißig Sekunden und mehr dauerten. Während dieser Zeit sollte sich die Figur nicht bewegen, um ein möglichst scharfes, die Identität genau einfrierendes Porträt zu schaffen. Das Einfrieren gelang jedoch zu Beginn kaum je vollständig, ein Hauch des Zeitablaufs ist immer darin zu spüren.

Kyungwoo Chun baute in den Dörfern Henans ebenfalls ein (einfaches) Studio auf und operierte mit langen Belichtungszeiten. Die Porträtierten mussten sich jedoch nicht bemühen, sich (fast verkrampft) ruhig zu verhalten, denn Ziel war nicht die möglichst realgetreue Repräsentation der äußeren Identifikation der Menschen, vielmehr sollten sich offenbar die Zeit, der Ahnen- und Ahnungsraum, aber auch die Handlungen und Kommunikationen untereinander in die langen Belichtungen einschreiben. Ein Erahnen – und nicht ein vermeintliches Wissen – sollte erzeugt werden. Seine Porträts wirken ein wenig wie Erscheinungen, die aus eigentümlich verhaltenem rotem Grund auftauchen. Sie zeigen keine genauen Details, sind auf Wesentliches konzentriert, sodass wir sie als Menschen, als Junge, Mädchen, Mann, Frau, erkennen, aber es findet keine Repräsentation von Individuellem, keine Repräsentation von Status und Macht statt. Die frühen Porträts in der abendländischen Geschichte waren Idealdarstellungen, Machtrepräsentationen; im Fotografiezeitalter kam das individuelle Porträt dazu. Kyungwoo Chun hingen macht Zeitporträts, Porträts der Zeit anhand des langsamen, eine Minute dauernden Ablichtens von Menschen. Das Porträt als eine Vera Ikon nicht der Person, sondern des Dauerns, Aufscheinens, nicht der Individualität, sondern des Menschseins, Daseins allgemein: versinnbildlichter Ahnungsraum versus sprachlich-formalisierte Identifikation. Vom General wiederum bleiben in der Reihe dieser verschiedenen Porträts vor allem die expressiven Zeichen der Macht erkennbar, während die Personen, die ihn während 49 Minuten darstellen und spielen, in diesen Insignien einsinken.

Diese Aufmerksamkeit für die Zeit, die Dauer, das Prozesshafte, das sich in Chuns fotografischer Historie abzeichnet, setzt sich im gesamten Projekt durch. Das Erstellen der Fotografien ist nicht das Endresultat. Sie wurden als Unikate vergrößert zurück in die Dörfer gebracht und möglichst mit der eigenen handschriftlichen Signatur (Name, Alter, Dorf) der porträtierten Personen versehen. Dann sind die Fotografien in roten Paketen nach Korea gebracht und von dort einzeln per Post verschickt worden – an die Adresse von Kyungwoo Chun in Deutschland.

Kyungwoo Chun betont das Prozesshafte, das Fließende, er hebt den Handlungszusammenhang hervor, dokumentiert sein Projekt wie eine langsame, andauernde Performance. Auch seine Videos handeln von der Zeit, vom Verfließen der Zeit, von unterschiedlichen Tempi, als würden wir der Zeit zusehen, sie wie Musik hören und Kontinuität, Langsamkeit und Permanenz gegenüber explosionsartigem Wechsel von Ruhe zu Schnelligkeit erfahren.

Ein Reisen und Kreisen der Gesichter und der Geschichte, ein Dauern der Zeit, ein Handeln im schnellen Augenblick – in einer visuellen Geschichte von Kyungwoo Chun, die nun als Ausstellung reisen wird. Mehrheitlich in ein Rot getaucht, das weder an den sowjetischen noch den chinesischen Kommunismus erinnert, wohl aber an die Stammesbücher der Chuns. Ein Kreisen auch in der Fotogeschichte: eine Reduktion der Wiedergabe, der Identifikation gegenüber der Öffnung des fotografischen Bildraums, seiner Dehnung, der Betonung der Zeitdauer in der Fotografie. »Believing is seeing«, schreibt Kyungwoo Chun an anderer Stelle.

[1] Jean-Jacques Rousseau, Politics and the Arts: Letter to M. D’Alembert on the Theatre, trans. Allan Bloom (Glencoe, 1960), p. 60.
[2] Régis Debray, Jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland, Berlin 2007 (2. Aufl.)