März 2020  /  Jan Jedlička: 200m (Steidl Göttingen)

Vom heiteren Heiligen

English Version: Of Sacred Serenity →
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Paul (erstaunt)

Die sind ja alle gleich.

Auggie (lächelt stolz)

Ganz recht. Über 4000 Bilder von derselben Stelle, Ecke Third Street und Seventh Avenue
um acht Uhr morgens. Viertausend Tage hintereinander bei jedem Wetter.

(Pause)

Deshalb kann ich auch niemals Urlaub machen. Weil ich jeden Tag an meiner Stelle sein muss. Jeden Tag zur selben Zeit an derselben Stelle.

Paul (ratlos. Blättert um, blättert weiter)

So was hab ich noch nie gesehen.

Auggie

Das ist mein Projekt. Sozusagen mein Lebenswerk.

Paul (legt das Album weg und nimmt ein anderes. Blättert darin herum und sieht immer das gleiche. Schüttelt verblüfft den Kopf)

Erstaunlich.

(versucht höflich zu sein)

Aber ich weiß nicht, ob ich das richtig verstehe. Ich meine, wie sind Sie denn auf die Idee gekommen … zu diesem Projekt?

Auggie

Keine Ahnung, einfach so. Immerhin ist das meine Ecke. Nur ein kleiner Teil der Welt, aber auch da spielt sich was ab, genau wie überall anders. Es ist eine Aufzeichnung meiner kleinen Welt.

Paul (herumblätternd, noch immer kopfschüttelnd)

Irgendwie überwältigend.

Auggie (immer noch lächelnd)

Wenn Sie nicht langsamer machen, werden Sie es nie verstehen, mein Freund.

Aus dem Drehbuch von Paul Auster zum Film «Smoke» (1995)


Der Blick auf die Landschaft, aufs Meer begleitet das Abendland – das Sehen der Menschen, ihr Träumen, Fantasieren, ihr reales oder fiktionales Leben –, seit wir aus der Einheit mit Gott entlassen sind, seit Himmel und Erde, ich und Du, ich und die Welt auseinanderdividiert worden und ein komplexes System von Daseins- und Wahrnehmungsmöglichkeiten entstanden ist.

Als Petrarca Mitte des 14. Jahrhunderts den Mont Ventoux in der Provence bestieg und danach dem Augustinermönch Dionigi von Borgo San Sepolcro einen langen Brief mit dem Titel «von meinen persönlichen Problemen» («De curis propriis») schrieb, erhob er sich von der Erde, löste sich aus der großen Einheit und bewunderte zum ersten Mal aus der Distanz die Natur als Landschaft . Mit diesem Akt wurde die fraglos umfassende Einheit und Ordnung mit Gott aufgebrochen, das autonome, sehende, denkende, handelnde Subjekt war geboren, das auf eine vor ihm sich ausbreitende Welt trifft und sie sehend als Gegenüber erfährt.

Der «Mönch am Meer» von Caspar David Friedrich lehrt uns, dass der Weg zum autonomen Subjekt mit Trennungsschmerz und mit Ängsten verbunden war. Der Mönch steht, so lesen wir das Bild, auf einer Landzunge und blickt über ein schwarzes, trostloses Meer in die Weite, in die große Natur, die verlorene Einheit zurück und erlebt sich als einsamen, verlorenen Mensch, entlassen aus der Einheit und auf sich allein gestellt. Friedrich ahmt hier weniger die Natur nach, als dass er eine einzige große, tiefe Empfi ndung malt. 400 Jahre nach Petrarca macht sich in der Romantik, in der Vollendung der Auft rennung der Einheit und der Neuordnung des Daseins, eine tiefe Unsicherheit breit, als Gefühl des Losgelöstseins, Verlorenseins, des totalen Getrenntseins vom großen Sinnzusammenhang. Johann Gottfried Herder war sich schon ein paar Jahre vorher sicher, dass jedes Individuum «ein eignes Maß, gleichsam eine eigne Stimmung aller sinnlichen Gefühle zueinander» in sich trage: «Der tiefste Grund unseres Daseins ist individuell, sowohl in Empfindungen als Gedanken.» Die Industrialisierung schließlich spaltete auch das Diesseits auf: die lebenszyklische Erfahrung von Raum und Zeit. Die natürliche Einheit – wohnen und schlafen am gleichen Ort, eingebettet in den Ablauf von Tag und Nacht – wich einer neuen Ordnung, wich der Fabrikzeit, welche die Arbeits- und Lebenszeit erstmals, mit der Arbeitsglocke, mit Kontrollen am Eingang und mit der Stempeluhr, quantifiziert und normiert hat. Ein radikaler Einschnitt in das bisher natürlichen Rhythmen folgende Leben.

In dieser Zeit formierte sich in der Fotografi e (besonders in der amerikanischen Fotografie) die Vorstellung der Landschaft als die einer großartigen, unberührten, heiligen, großgeschriebenen Natur. Natur und Landschaft werden idealisiert und hochstilisiert zur Verkörperung des Ewigen, Beständigen, Göttlichen, das nur herausgefordert wird durch die eigenen Kräfte, durch Sonne, Regen, Schnee und Sturm. Die Landschaft wird zum unberührten, heiligen ‹Natur-Körper› gegenüber dem vermaledeiten, beschmutzten ‹Stadt-Körper›. Die Psyche des geforderten Subjekts schuf sich hier, wenn man so will, eine Fluchtmöglichkeit, ein Refugium des Ursprünglichen, ein Surrogat für das verlorene Heilige. Sie erschaut das Göttliche in der natürlichen Natur. Estelle Jussim spricht in ihrem Buch Landscape as Photograph deshalb von der «Landscape as God», von der Landschaft als Gott, als Erhöhung, als Symbol.

Jan Jedlička berührt in Il Cerchio, seinem früheren Buch über die Maremma – diesen besonderen Landstrich, in dem Wasser und Land in immer neuen Formen verschmelzen, in dem das Wasser alle noch so großen Anstrengungen der Menschen, ihn urbar und fruchtbar zu machen, seit der Antike immer wieder scheitern ließ –, mit seinem Jahreszeitenkreis von Winter bis Winter etwas von diesem Heiligen. Wir erleben darin, wie der Wind über die Ebene fegt, tosendes Wasser haufenweise Schwemmholz ans Ufer wirft , die Landschaft immer wieder neu erschaff en wird, wie allmählich die Hitze ansteigt und trotz Meeresbrise im Hochsommer über den Köpfen steht und gleißt, das Leben scheinbar auszubrennen scheint. Jedlička berührt darin auf sehr feine Weise, wie Naturgewalten und von Menschenhand Geschaff enes sich aneinander reiben, bis die Farbe abblättert, bis das Holz auslaugt und die Konstruktion zerfällt. Er gleitet mit seinen quadratischen, im Kontrast manchmal leicht dramatisierten weitwinkligen Schwarz-Weiß-Fotografi en durch die Wellen der Zeit, der Zeiten, der Naturgewalten, die sich aufbauen, durchsetzen, einbrechen oder nur frisch oder bleiern da sind. Vom Land her folgt er außerhalb der Saison den Spuren der Menschen und während der Saison den Spuren der Touristen. Die minimalistische Anlage der Aufnahmen und Bildfolgen – meist mit einem Horizont, der die Fotografie in der Mitte teilt oder manchmal, schärfer, schneidet oder zusammenkittet – verhindert jedoch, dass eine große symbolische Natursymphonie erklingt. Die Bilder wirken in der einfachen Abfolge der Jahreszeiten ruhig, einfach, bescheiden fast, und gleichzeitig sorgfältig in Reihe gestellt.
In seinem neuen Buch entwickelte Jan Jedlička eine andere Klangfarbe. Seine Fotografi en sind weiterhin analog, schwarz-weiß, quadratisch, aufgenommen mit einem superscharfen Objektiv auf einem Schwarz-Weiß-Film, der im Farbprozess entwickelt wird (was zusammen einen schnellen handlichen Umgang mit der Kamera und scharfzeichnende Bilder mit kräftigem Kontrast erlaubt), und sie folgen einander in ruhiger, gleichmütiger Reihenfolge. Die Eingrenzung hingegen ist strenger als vorher, denn dieses Mal wird nur ein Strandabschnitt, ein Landstrich von rund 200 Metern ins Auge gefasst. 200 Meter von links nach rechts, von Süden nach Norden am Meeresrand und 200 Meter von hinten nach vorne, vom Land zum Wasser und wieder zurück, präzise bei Principina a Mare, direkt neben dem Parco Regionale della Maremma gelegen. Zwei einfache kleine Maßzahlen, die multipliziert zur Fläche von 40000 Quadratmetern expandieren. Ungefähr zumindest, denn wer will in der Natur, in ihrer Anschauung, im Erleben, Erfahren schon wissenschaft lich genau sein. Eine starke Reduktion, die, so vermutet man zu Beginn, die Realität ins Modellhaft e verschieben, den Blick einengen, ihn verschließen, ihm die Komplexität nehmen könnte. Doch Einschränkungen schärfen andererseits den Blick, machen ihn wach für das Kleine, Unbedeutende, das Alltägliche, das sich abspielt, sie erlauben das Fokussieren auf Banales, Einfaches, das sich ereignet, das vorbeizieht, vorbeischlendert, aufkommt und verebbt.

Das erste Bild der Reihe steckt gleichsam das Territorium ab, steckt das Spielfeld mit kleinen Markierungshölzern aus, innerhalb dessen sich regellos oder von unsichtbaren Gesetzen geleitet das zu beobachtende Leben abspielt. Das zweite Bild veranschaulicht die natürlichen Möglichkeiten und Grenzen, lässt Sand, Wasser und Meer in einer perspektivischen Sicht wie sich einander zuneigende Scheiben nach hinten fl iehen. Das Licht ist fast ausgeschaltet, nur am Horizont eröff net sich ein Streifen Hoff nung auf Besserung. In der Bildfl äche, nun
perspektivlos gesehen, schieben sich unterschiedliche Graufl ächen aneinander, leicht dynamisiert durch eine nach links fallende Horizontlinie. Der einsame Mensch am Meer in einer Fotografie weiter hinten schaut nicht mehr sehnsüchtig in die Ferne. Seine Armstellung lässt vermuten, dass sein Blick auf ein Smartphone fällt, das den Radius der abgesteckten Grenzen virtuell überschreitet. Das dritte Bild vermittelt den Eindruck von ansteigenden quellenden Wassermassen, die das Bild auszufüllen drohen, die Himmel, Meer und Strand fast in die gleiche Eben schieben, als lösten sich die Grenzen auf, um ein Ganzes zu bilden und zu symbolisieren.

Dann geht allmählich Leben ‹los›. Zuerst bricht die Natur ein, bahnt sich den Weg, baut Teiche, setzt Dutzende von Ster Schwemmholz ab, bevor sie den Weg freimacht für eine heitere Luftigkeit. Die ersten Surfer kämpfen noch mit kräft igen Windstößen, bald jedoch lohnt es sich, das Basketballfeld vom Sand freizufegen, Fußspuren in den Sand Richtung Meer zu setzen. Vorne am Wasserrand streichen Menschen wie Scherenschnittfi guren von rechts nach links vorüber oder umgekehrt. Sonnenschutz und Liegemobiliar werden installiert und zum Meer hin ausgerichtet. Die Zeichen von Spielfreude, Heiterkeit, von lustvoller Langeweile mehren sich. Höhepunkte sind bedeutsame Ausgrabungen und Burgen im Sand, überwacht von zauberhaft
en, sonnendurchschienen Drachenformationen am Himmel, mit Menschen, die zur Gelassenheit verführt werden, mit Menschen auch, die durch nichts von ihrem Entschluss, das Hier und Jetzt zu genießen, abgebracht sein wollen. Kurz vor Herbstbeginn leert sich allmählich der Strand, das Mobiliar wird abgebaut, weggeräumt, menschliche und natürliche Spuren vermischen sich, die Parkplätze sind leer, die Spaziergänger wirken einsamer, ein Hauch von Melancholie durchzieht allmählich die Atmosphäre, schwillt an, wird prägender, lastender.
Das Meer scheint schrittweise sein Reich zurückzuerobern.

Jan Jedlička breitet in seinem ausgesteckten Feld mit Hilfe des Sonnenlichts, mit der offenen Brennweite, seinem stetigen Blick aufs Meer einen heiteren Klang, einen Duft der Leichtigkeit, der Freude, des Spiels aus. Er scheint sich in diesen Bildern von der Leichtigkeit des Seins anstecken zu lassen, direkt am Meer, unter dem Himmel, in der Sonne, mit den Füßen im Sand und einer Brise in der Nase, er scheint die Schwere des Lebens für Augenblicke zu vergessen. Dazwischen setzt er, mit einem anderen Kameraformat, rechteckige fotografische Abstraktionen, Aufsichten von Sandspuren, mit Grasbüscheln, Schilfbüschen oder auch nur mit informellen weißen Salzspuren oder kleinen glitzernden Schaumkronen versetzt. Diese fast monochromen, abstrakt anmutenden Flächenbilder bestärken den Betrachter, alle Fotografi en von Jedlička immer doppelt zu betrachten: im Sinne der verführerisch starken illusionären Perspektive, also gleichsam in den Glanz des Bildträgers eintauchend, ihn überschreitend, oder pragmatischer mit Augen und Nase das Fotopapier, das gedruckte Bild abtastend, es erkundend, riechend, die Ausbreitung der Zeichen auf der Trägerfläche inspizierend. Jedes fotografi sche Zeichen trägt in gleichem Maße zur perspektivischen Illusion als auch zum konkreten Zeichen auf der Fläche bei.

Die Schatten werden tiefer, länger, der Sand ist übersät mit schwarzen Punkten, Regen hat eingesetzt, kein Salvataggio weit und breit. Der Herbst, der Winter naht, die Natur übernimmt wieder die Regie. Jan Jedlička entwickelt in seinem Buch 200m ein kammermusikalisches Spiel zwischen menschlichem Leben und den verschiedenen Kräft en der Natur, der Sonne, des Windes, Regens, der Beständigkeit dieser Kräfte versus die Errungenschaft en und die Spielfreude des Menschen. Es ist im Wortsinn ein Sandkastenspiel, eine wunderbare, 200 mal 200 Meter große Versuchsstation, eine mit Absicht gewählte Vorrichtung, um besser auf das Zusammenspiel zu fokussieren, um der Entspannung, dem Auf- und Ausatmen, dem Spiel, der Freude, der Gelassenheit auf den Fersen zu sein.